Die Papageiin und der Affe

Die Papageiin und der Affe

Es war einmal eine Papageiin, die deprimiert und voller Schuldgefühle im Urwald auf dem Ast eines Baumes saß: Sie hatte zwar ein herrliches grün-rotes Federkleid, doch es war ganz grau vor Staub. Die Papageiin freute sich nicht mehr über den Gesang der anderen Vögel, die Sonne schien ihr zu grell und die Wolken, die sie früher geliebt hatte, kamen ihr auf einmal bedrohlich vor.

Da kam der Affe Sen und fragte: „Papageiin, was ist mit dir los?“
Die Papageiin zögerte, seufzte dann und antwortete: „Du weißt, wir Papageien mit dem grün-roten Federkleid legen sehr selten Eier. Und wenn wir es tun, legen wir immer nur ein Ei auf einmal. Gestern nun war ich nervös und hatte Angst vor der Zukunft und in meiner Nervosität stieß ich mein Ei aus dem Nest und es zerbrach. Nun bin ich nicht nur traurig, sondern ich fühle mich auch schuldig, weil ich ja selber schuld daran bin.“
„Das kann ich verstehen“, meinte der Affe nachdenklich. Er war nachdenklich geworden, weil die Papageiin einen Moment lang den Schnabel so komisch verzogen hatte, als würde sie lächeln, vielleicht, weil sie sich die Arbeit der Aufzucht des Nachwuchses erspart hatte. Die ist bei den Papageien nämlich sehr langwierig und mühsam.

„Du dummer Affe, wie willst du das verstehen?“ fragte die Papageiin. „Erstens legen Affen keine Eier, sondern bringen lebendige Junge zur Welt, zweitens bist du ein Mann und kannst gar nicht nachfühlen, wie eine Frau sich da fühlt und drittens steht ihr Affen auf einer ganz anderen Entwicklungsstufe als wir Vögel.“
“Das stimmt!“ meinte der Affe. „Natürlich sehe ich das von einem ganz anderen Gesichtspunkt als du. Aber vielleicht kann ich dir gerade deshalb helfen. Wenn du willst erzähle ich dir eine Geschichte von Tieren, die noch auf einer anderen Entwicklungsstufe stehen als wir Affen. Diese Tiere nennen sich Menschen.“
„Oh ja, bitte erzähle“, bat die Papageiin.
 Der Affe Senn begann:
„Es war einmal eine alte Frau. Sie lief mit einem großen und schweren Korb auf dem Rücken durch die Welt und klagte, dass sie so schwer zu tragen habe. In dem Korb befand sich ihre Vergangenheit: nämlich die Wiege, in der sie nach der Geburt gelegen hatte, eine Locke von ihrem einst so schönen Haar, die Rute, mit der ihre Mutter sie geschlagen hatte, die Scherben des Kruges, den sie zerbrochen hatte, die Schiefertafeln aus ihrer Schulzeit, eine vertrocknete Blume vom Grab ihrer früh verstorbenen Tochter und vieles andere.

Da kam die Fee Hayda des Weges, hörte die Alte klagen und stöhnen und riet ihr deshalb, die schwere Last doch abzusetzen. „Seine Vergangenheit kann man nicht einfach wegtun, was geschehen ist, ist geschehen“, jammerte die Alte. „Und außerdem: ohne meine Vergangenheit wäre ich ja gar nicht mehr ich selber! Und so lange ich den Korb auf dem Rücken spüre, fühle ich mich wenigstens.“ Hier schien es der Fee Hayda, als hätte die Alte für einen Moment ein merkwürdiges Lachen auf den Lippen, während ihr gleichzeitig die Tränen über das Gesicht liefen.
Die Fee Hayda dachte nach und sagte dann: „Wenn du willst, werde ich dir einen Zauberspruch verraten und du kannst den Korb absetzen, denn niemand außer dir selbst kann an den Korb, nachdem du den Spruch gesagt hast. Natürlich, wenn du an den Korb willst, musst du dich auf den Weg dahin machen. Doch weil du nichts mehr zu tragen hast, wird dir der Weg Vergnügen bereiten und wenn du achtgibst, kannst du dich auch beim Atmen spüren.“ Nachdem die Alte gesagt hatte, dass sie den Spruch gerne hören wollte, flüsterte ihr die Fee den Zauberspruch ins Ohr:
„Weine, wenn du traurig bist,
lache, wenn du fröhlich bis, 
schreie, wenn du wütend bist,
handle, wenn du Angst hast,
dann bist du frei: Tassilomao!

Die Alte hatte viele Zweifel und der Gedanke, den Korb so viele Jahre nutzlos mit sich herumgetragen zu haben, war ihr schrecklich. Dann aber sagte sie sich: „Warum weiter leiden, nur weil ich so lange gelitten habe?“ Und sie entschied sich und setzte den Korb neben den Weg und sprach so laut sie konnte den Zauberspruch:
„Weine, wenn du traurig bist,
lache, wenn du fröhlich bist,
schreie, wenn du wütend bist,
handle, wenn du Angst hast,
dann bist du frei: Tassilomakko!“
Und obwohl sie das magische Wort falsch ausgesprochen hatte, konnte sie mit den neuen Augen, die der Zauberspruch ihr gegeben hatte, sehen, wie sich eine unsichtbare Glocke über dem Korb aufbaute und ihn damit für alle Lebewesen unerreichbar machte. Nur sie selbst konnte immer an den Korb. Und seit vielen Jahren richtete sie sich zum ersten Mal wieder gerade auf und atmete tief. Ja, seitdem läuft sie nicht mehr mit einem gebeugten Rücken durch die Welt.“

Die Papageiin hatte aufmerksam zugehört und den Kopf dabei geneigt, wie das die Papageien tun, wenn sie aufmerksam sind. Jetzt richtete sie den Kopf auf und fragte: „Aber wie soll ich denn mit meinem Problem fertig werden?“
Der Affe erwiderte: „Dein Ei ist zerbrochen, du wirst es nie mehr ausbrüten. Dieses Junge kannst du nicht haben, wirst nie die Lust erleben, wenn sich dieses Junge an dich kuschelt, wenn es singen und pfeifen lernt. Du wirst die Angst nicht haben, wenn es beginnt zu fliegen. Und du wirst den Ärger nicht haben, wenn es den Schnabel nicht voll genug bekommt und das Nest beschmutzt.
Das mit deinem Ei war gestern, ist Vergangenheit. Behalte diese Vergangenheit so, wie die Alte ihren Korb behielt und lege sie neben deine Seele, so wie die Alte den Korb neben den Weg stellte. Dein Ei zerbrach gestern“, und jetzt warf er seine langen Arme in die Luft und rief: „ Und heute ist ein neuer Tag: der erste Tag vom Rest deines Lebens!“
Dann schwang sich der Affe Sen von Ast zu Ast, bis er aus dem Blickfeld der Papageiin verschwunden war. Die murmelte noch eine Weile vor sich hin: „Hm, hm, heute ist ein neuer Tag, der erste Tag vom Rest meines Lebens?“ Und auf einmal begann sie zu weinen und zu lachen und zu kreischen.

Die Tiere, die später gesehen haben, haben mir erzählt, dass sie nicht nur wieder kreischt und pfeift und singt, sondern auch mehrmals am Tage heftig mit den Flügeln schlägt, so dass der graue Staub nur so davonfliegt und sie wieder ihr schönes grün-rotes Federkleid hat.